Keine einzige Lüge, auch nicht die allerkleinste. Wer sich das als Selbstversuch vornimmt, stellt es sich leichter vor, als es ist. Und mit einer der vier Entdeckungen, die er dabei macht, hat er bestimmt nicht gerechnet. Zumindest ging es mir so.

Wie war dein Wochenende? Mit dieser Frage fing es am ersten Tag meines Selbsttest, einem Montag, an. Wer gibt in dieser Welt, in der alle so viele Freunde und so viel Spaß zu haben scheinen, schon gerne zu, dass sein Wochenende eher scheiße war? Und vor allem, wer will schon andere damit behelligen, die gerade eine Höflichkeitsfrage gestellt haben? Ich beschloss, dass nicht zu lügen auch bedeuten konnte, einer Frage flapsig auszuweichen. „Frag mich bitte etwas anderes“, erzählt ja ebenso die Wahrheit wie „ich habe meine Steuererklärung gemacht und war am Abend so fertig, dass ich nur blöd Serien geglotzt und mangels anderer Lebensmittel im Haus drei Gläser milde Bio-Pfefferoni gegessen habe“.

Mit den ersten drei Entdeckungen, die ich bei meinem Selbsttest machte, hatte ich gerechnet, zumindest verwunderten sie mich nicht allzu sehr.

Die erste war: Ich lüge viel mehr, als ich dachte, und zwar aus drei Gründen. Der häufigste war Höflichkeit. Ich wollte jemanden nicht mit etwas behelligen, jemanden nicht die Stimmung verderben oder ihn mit kleinen Beschönigungen für mich gewinnen. Der zweithäufigste Grund war Effizienz. Ich wollte mich nicht mit den Umständen der ungekürzten Wahrheit aufhalten und verknappte sie mit kreativer Gestaltung. Der dritthäufigste Grund war mein Bedürfnis, zu gefallen. Ich stellte mich mit der einen unmerklichen Wendung besser dar, als ich war.

Die zweite Entdeckung war: Lügen ist tatsächlich eine Gewohnheit, die sich ablegen lässt. Das erfordert allerdings beharrliche Selbstbeobachtung mit höchster Aufmerksamkeit, die am Anfang, in der Mitte und am Ende meines Selbsttests immer gleich anstrengend blieb. Anders ausgedrückt: So richtig zur Gewohnheit wird immer die Wahrheit zu sagen dann doch nie, jedenfalls nicht in sechs Wochen.

Die dritte Entdeckung war: Es entsteht tatsächlich zunächst ein besseres Selbstgefühl. Ganz so wie es der Arzt Johannes Huber in seinem Buch Das Gesetz des Ausgleichs – Warum wir besser gute Menschen sind, das mich zu meinem Selbsttest inspiriert hat, beschreibt. Ich hatte davor weder Kopfschmerzen noch depressive Verstimmungen, doch ich konnte mir sehr gut vorstellen, dass beides sich durch das beharrliche Sagen der Wahrheit legt. Ich war tatsächlich entspannter und fühlte mich anderen Menschen näher, ein gutes Gefühl.

Nach etwa drei Wochen kündigte sich meine vierte Entdeckung an, die für mich die wichtigste und unerklärlichste meines Selbstversuches ist und bleibt. Zunächst hielt ich sie für Einbildung. Erst nach fünf Wochen war ich mir sicher: Indem ich selbst diszipliniert die Wahrheit sagte, entwickelte ich ein untrügliches Gefühl dafür, wann andere logen.

Warum das so ist, weiß ich wie gesagt nicht genau, aber es war ein Gefühl wie hinter eine Kulisse zu blicken, von der ich bisher gar nicht wusste, dass es nur eine Kulisse ist. Ich saß Menschen gegenüber, die mir freundlich wie immer in die Augen blickten, während ich mir dachte: Jetzt echt? Du lügst mich einfach so an? Wegen dieser unbedeutenden Kleinigkeit? Und du verziehst nicht einmal eine Miene dabei?

Auch wenn es so klingen mag: Ich war nicht gerade glücklich über diese neue Fähigkeit. Es war eher gespenstisch, obwohl eine befreundete Psychologin, die ich dazu bei einem Spaziergang befragte, eine einfache Erklärung hatte: Wer sein eigenes Verhalten genau beobachtet und analysiert, lernt dabei automatisch, das Verhalten anderer zu beobachten und zu analysieren. Im Grunde sei die Selbstbeobachtung die beste und vielleicht einzige wirkungsvolle Art, beobachten zu lernen, meinte sie.

Nach sechs Wochen beendete ich meinen Selbsttest, auch wegen dieser Erfahrung. Einerseits faszinierte sie mich, andererseits deprimierte sie mich. Als ich meine Aufmerksamkeit von meinem eigenen Kommunikationsverhalten abzog, war der Zauber auch sofort wieder verschwunden. Jetzt geht es mir damit genauso: Einerseits fehlt er mir, andererseits bin ich froh, dass ich wieder zurück in der Kulissenwelt bin. (lomo)