Ich erinnere mich noch gut an mein letztes Stück Kuchen, das aus einem kleinen makrobiotischen Restaurant in der Wiener Innenstadt stammte. Ich erinnere mich sogar noch an die Bäckerin, Veronika, die vorwiegend mit Honig süßte. Damals, vor etwa zehn Jahren, hatte ich schon verstanden, dass auf Zucker zu verzichten und süß zu essen nicht zusammenpasst, auch nicht mit Makrobiotik und Honig. Trotzdem gönnte ich mir noch diese Apfel-Himbeerschnitte.
Sieben Erkenntnisse
Das makrobiotische Restaurant hat inzwischen einem Asia-Imbiss Platz gemacht. Veronika hat geheiratet, ein Kind bekommen, sich wieder getrennt und eine Ausbildung zur Craniosacral-Therapeutin gemacht. Ich habe seit damals keinen Zucker mehr gegessen und nichts, das Zucker, in welcher Form auch immer, enthält. Dabei habe ich sieben Dinge herausgefunden.
Erstens. Es ist leichter, auf Zucker zu verzichten, als mit Zigaretten, Alkohol oder Kaffee aufzuhören. Eine Woche lang hatte ich gelegentlich ein intensives Bedürfnis nach etwas Süßem, das ich mir bis dahin zwei bis drei Mal am Tag gegönnt hatte. Danach blieben nur noch Gewohnheiten, die nach ihrer Erfüllung verlangten. Süßes zum Nachtisch vor allem, aber da konnte ich mir relativ leicht mit Obst behelfen.
Zweitens. Während ich als ehemaliger Raucher eine echte Aversion gegen das Rauchen entwickelte, verhält es sich mit Zucker in diesem Punkt wohl eher so wie mit Alkohol: Irgendwann gewöhnte ich mich an den Verzicht, doch der Rückfall ist immer nur eine Apfel-Himbeerschnitte weit entfernt. Ich hatte in diesen zehn Jahren nie einen Rückfall (siehe erstens) aber mir war immer klar, dass ich aufpassen musste.
Drittens. Wer auf Fleisch oder Alkohol verzichtet, kann in geselligen Runden zum Fremdling werden, bei Zucker ist das nicht der Fall. Ob ich Kuchen oder Obst zum Nachtisch aß, war immer allen egal. Ich war dann eben „kein Süßer“ und musste mich nie dafür rechtfertigen. Kein Zucker, das wurde nur zum Thema, wenn ich es selbst dazu machte.
Viertens. Die große Herausforderung liegt nicht im Verzicht auf den Zucker, sondern im Aufspüren des Zuckers. Dabei fing die Lebensmittelbranche an, mich zu nerven. Zucker ist praktisch überall drin, im tiefgekühlten Letscho multinationaler Konzerne ebenso wie im eingelegten Selleriesalat jedes regionalen Bioproduzenten. Selbst Salat wird zum Problem, weil es kaum Essig ohne Zucker gibt, auch nicht im Bio-Supermarkt. Mit der Zeit verzichtete ich immer mehr auf verarbeitete Produkte, der Einfachheit halber. Wer keinen Zucker mehr will, kocht am besten selbst.
Fünftens. Meine Wahrnehmung von Hunger änderte sich. Was ich bisher als Hunger wahrgenommen hatte, war offenbar nur der Ruf des durch laufende Zuckerzufuhr schwankenden Insulinspiegels nach süßem Nachschub gewesen. Jetzt fühlt sich Hunger für mich eher wie ein zu geringer Ladezustand meiner Zellen an. Diese Art von Hunger ist unaufgeregter und unaufdringlicher. Heißhunger kenne ich nicht mehr.
Sechstens. Meine Sensibilität für Süß stieg. Während ich anfangs noch Bananen-Dattel-Smoothies liebte, waren auch sie mir bald zu süß, wie überhaupt das auf Süße gezüchtete Industrieobst der Supermärkte. Unsere Äpfel oder etwa Mangos sind in Wahrheit künstlich aufgeblasene Fructose-Bomben, wie sie die Natur selbst nie hervorgebracht hätte, wurde mir klar. Ich liebe inzwischen die kleinen, sauren Äpfel und Birnen, an denen ich früher achtlos vorbeiging und die mir kümmerlich vorkamen. Ich ziehe Grapefruits, die ich früher unausstehlich fand, Orangen vor und selbst Karottensaft empfinde ich als geradezu aufdringlich süß.
Siebtens. Ich entwickelte das intensive Bedürfnis, andere mit Süßem zu bewirten. Ich kenne alle kleinen Bäckereien in der Umgebung unseres Büros, die in liebevoller Handarbeit Kuchen, Torten, Schaumrollen oder Cupcakes herstellen, kaufe gerne für Kollegen und Gäste dort ein und bin glücklich, wenn alle kräftig zulangen. Warum? Ehrlich: keine Ahnung. Falls jemand eine Vermutung hat, nur her damit.
Fazit
Zucker hatte mich nicht „süchtig“ gemacht, ich konnte ihn verhältnismäßig leicht und ohne soziale Folgen absetzen. Der Verzicht darauf erhöhte meine Kontrolle über mein Ernährungsverhalten maßgeblich, weil Heißhungerattacken ausblieben. Das Problem besteht darin, dass Zucker fast überall enthalten ist. Wer auf Zucker verzichten und nicht ständig das Kleingedruckte auf den Verpackungen lesen will, muss auf verarbeitete Lebensmittel weitgehend verzichten und selbst kochen.
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