Gibt es eine Gesamtwirklichkeit, die sich unserer Wahrnehmung entzieht, weil unsere Sinne dafür nicht gemacht sind? Eine Spur, die dorthin zu führen scheint, ist die Zeit. Nehmen wir einmal an, es gäbe sie gar nicht, sie wäre nur eine Erfindung.

Halb neun. Siebzehn Uhr. Mitternacht. Das sind Definitionen, an die wir uns klammern, aber was, wenn in Wirklichkeit alles unaufhörlich gleichzeitig passiert und sich unser Gehirn die Zeit als fiktive und letztlich banale Maßeinheit zurechtgelegt hat, um das Unbegreifliche zu begreifen?

Gitterzellen im Gehirn

Einiges weist darauf hin, dass dem so ist. Es fing mit der Erforschung des Orientierungssinns an. Die Wissenschaftler John O’Keefe, May-Britt und Edvard Moser erhielten dafür den Medizin-Nobelpreis 2014. Sie entschlüsselten in Jahrzehnten wissenschaftlicher Arbeit das Zusammenspiel von Orts- und sogenannten Gitterzellen im Gehirn. Menschen, die viel reisen und ihren Horizont erweitern, sind geistig wendiger, das war eines ihrer am leichtesten verständlichen Ergebnisse.

Kurz danach zeigten Wissenschaftler anhand von Tierversuchen, dass sich nicht nur die räumliche, sondern auch die zeitliche Struktur in neuronalen Aktivitäten abbildet. Zwei Forschergruppen in den USA und den Niederlanden fanden die Belege dafür. Die Ergebnisse publizierten sie in den Fachmagazinen Proceedings of the National Academy of Sciences und im Journal of Neuroscience.

Was unsere Ahnen schon immer glaubten

Demnach sorgen Zeitzellen im menschlichen Gehirn dafür, dass wir Ereignisse zeitlich einordnen können. Diese Zeitzellen können wir als Krücken sehen, die uns helfen, durch eine Welt zu stolpern, deren Gesamtwirklichkeit millionenfach komplexer und wundersamer ist, als wir uns das je vorstellen können werden. Denn was bedeutet es, wenn es Zeit eigentlich gar nicht gibt? Wenn sie bloß ein subjektiver Eindruck ist?

Es bedeutet, dass es auch kein davor und kein danach gibt, also auch kein Leben vor und nach dem Tod. Beides passiert gleichzeitig und schon immer. Genauso, wie es unsere Ahnen, für die Tote unsichtbare Mitbewohner dieser Welt waren, einander von Generation zu Generation überliefert haben. Bis wir, der selbstbeschränkte moderne Mensch, in unserer zweidimensionalen Welt darauf vergaßen.

So könnten wir ewig sein

Wenn die Zeit bloß unsere subjektive Interpretation der Gesamtwirklichkeit ist, eine Art Vereinfachung, und wenn in der Gesamtwirklichkeit alles gleichzeitig stattfindet, können wir mit Recht glauben, dass auch Leben und Tod gleichzeitig stattfinden und wir auf diese Weise ewig sind.

(Dieser Text ist ein Ausschnitt aus dem neuen Buch von Prof. DDr. Johannes Huber mit dem Titel Die Kunst des richtigen Maßes – Wie wir werden, was wir sein können. Zum Buch geht es hier)