Verzichten zu können ist das große Thema unserer Zeit. Wir müssen es jeder für uns und als Menschheit gemeinsam schaffen, wenn wir diesen Planeten als lebenswertes Zuhause erhalten wollen. Die Fähigkeit dazu ist allerdings manchen eher in die Wiege gelegt als anderen. Diese Privilegierten tun sich aus neurobiologischen Gründen leichter, zu verzichten, Maß zu nehmen und Maß zu halten. Das bewies der berühmte Marshmallow-Test, bei dem ein Forscher Kindern sagte: „Hier hast du einen Marshmallow. Du kannst ihn gleich essen oder du kannst warten, bis ich wiederkomme, dann bekommst du noch einen.“ Die, die warten konnten, waren im wahrsten Sinne des Wortes privilegiert. Eine Langzeitstudie zeigte, dass sie im Leben in allen Bereichen, beruflich, sozial und gesundheitlich, erfolgreicher waren.

Der Muskel über unserer Augenhöhle

Dass bestimmte Persönlichkeitsmerkmale angeboren sind, ist keine Ausrede für jene, die bei dem Test durchgefallen wären. Denn sie können ihre Willenskraft trainieren. Werfen wir dazu einen Blick auf den orbitofrontalen Cortex, also auf das menschliche Großhirnrindengebiet, das sich direkt über der Augenhöhle vorne im Schädel befindet. Es scheint so zu sein, dass unsere Willenskraft davon abhängt, wie gut er funktioniert. Schließen lässt sich das aus der Beobachtung, der zufolge wir unsere Fähigkeit zum Belohnungsaufschub ganz verlieren können, wenn er etwa durch einen Unfall oder eine Operation beeinträchtigt ist. Unser Großhirn, könnten wir sagen, ist der Muskel unseres Willens und je schwächer dieser Muskel ist, desto eher sind wir Getriebene unserer Bedürfnisse. Je stärker er ist, desto eher beherrschen wir sie. Darum geht es auch in meinem Buch Die Kunst des richtigen Maßes – Wie wir werden, was wir sein können.

Das Training der Willenskraft ist keine Geheimwissenschaft

Dass sich dieser Muskel trainieren lässt wie ein Bizeps, weiß die sogenannte Volitionsforschung, ein wissenschaftlicher Zweig der Psychologie, der sich mit bewusster, willentlicher Umsetzung von Zielen durch planmäßige Steuerung von Gefühlen, Gedanken und Handlungen befasst. Die Erkenntnisse dieser Forschung fließen zum Beispiel im Leistungssport ein, bei dem neben Kondition und Können auch oft der Kopf entscheidet. Anleitungen zum Training der Willenskraft gibt es im Internet unzählige, doch letztlich ist es keine Geheimwissenschaft. Denn mit der Willenskraft verhält es sich tatsächlich genau wie mit dem Bizeps: Wer sie stärken will, muss sie benutzen.

Kalt Duschen und den Kuchen ablehnen

Wir sind jeden Tag unzähligen Situationen ausgesetzt, in denen wir das tun können. Wir können uns zum Beispiel dazu überwinden, nach dem warmen Duschen noch kurz das kalte Wasser laufen zu lassen. Wir können bewusst auf den Kaffee zum Kuchen verzichten, der uns angeboten wird, auch wenn uns danach wäre. Wir können bewusst auch bei schlechtem Wetter laufen oder spazieren gehen, obwohl wir viel lieber auf dem Sofa bleiben würden. Es läuft darauf hinaus, dass wir bewusst tun, was Sinn macht und nicht, was uns leichtfällt. Jede einzelne kleine Überwindung dazu ist wie ein Liegestütz für unsere Willenskraft.

Trainingscamp für die Willenskraft

Wie bei physischer Muskulatur können wir auch hier wieder abbauen, wenn wir schlampig werden. Das ist einer der Gründe dafür, weshalb regelmäßige Askese wie etwa Fasten während der Fastenzeit so wichtig ist. Sie ist wie ein Trainingscamp für unsere Willenskraft.

Vielleicht scheitern wir zunächst oft dabei, unsere bewussten Entscheidungen über unsere momentanen Bedürfnisse zu stellen, doch je öfter wir es versuchen, desto stärker wird der Muskel über unserer Augenhöhle, desto eher werden wir die Menschen, die wir sein können, und desto eher werden wir als Menschheit überleben. Zu meinem Buch Die Kunst des richtigen Maßes – Wie wir werden, was wir sein können geht es hier.