Ein Kommentar von Prim. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Likar zu Eigenverantwortung in Zeiten der Pandemie.
Je mehr wir die Pandemie in den Begriff bekommen, desto stärker wird die Politik auf die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger setzen. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz etwa spricht seit einer Weile gerne davon. Er sagt dabei im Grunde das Richtige, doch seine Ambition ist einseitig. Denn Eigenverantwortung in Zeiten einer Pandemie besteht keineswegs nur in der Entscheidung, sich impfen zu lassen. Dazu kann jeder stehen, wie er will. Echte Eigenverantwortung geht tiefer. Es beginnt mit den zwei einfachsten Dingen der Welt. Ernährung und Bewegung. Wer Sport macht, moderat, aber regelmäßig, lebt länger. Wer sich ausgewogen ernährt, lebt länger. Punkt.
Weg von der Reparaturmedizin
Unser Gesundheitssystem fördert die Reparaturmedizin. Es ist wie bei Autos. Wenn ein Teil scheppert, gehen wir zum Arzt und erwarten, dass er das Problem schnell und bestmöglich beseitigt. Diese Denke müssen wir ändern. Denn in Zeiten von Corona gibt es das beste Heilmittel längst: das eigene Immunsystem. Es ist unser Schutzschild gegen Angriffe von außen. Laufen etwa ist so simpel und stärkt das Immunsystem gleichzeitig so unglaublich effektiv. Schuhe anziehen, los. Niemand braucht einen Wettlauf gegen die Zeit zu machen. Joggen, einfach so, dass einem nicht seitlich die Zunge heraushängt wie einem Golden Retriever im Sommer. Das ist das erste Rezept, das wir Ihnen aufschreiben. Stempel drauf, Unterschrift, mit freundlichen Grüßen, Ihr Professor Likar & Kollegen. Wichtig ist, dass wir uns im aeroben Bereich bewegen, also nicht übertreiben. Erreichen wir die anaerobe Schwelle, löst das im Körper eine Sauerstoffunterfunktion aus, was die Entzündungsneigung erhöht.
Fresszellen aktivieren
Die ersten Studien zeigen: Einer der Hauptrisikofaktoren für einen schweren Verlauf von Corona ist Adipositas, also Übergewicht im schlimmsten Fall kombiniert mit einem angeschlagenen Immunstatus, beispielsweise durch Diabetes und Bluthochdruck. Das ist für das Virus wie eine Einladung mit offener Tür. Für einen ausgewogenen Immunstatus brauchen wir Vitamin C, Zink und Vitamin D. Und zwar regelmäßig. Der Mensch ist kein Murmeltier. Wir können keine Vorräte anlegen, wir haben keine Reservoirs. Wichtig ist auch, den Körper innerlich zu reinigen. Intervallfasten zum Beispiel. Unser Kollege Professor Johannes Huber hat das sehr gut in seinem Buch Die Anti-Aging-Revolution erklärt. Wer fastet, aktiviert im Körper Fresszellen, die den ganzen inneren Unrat wegfuttern. Spermidin erzeugt diese Wirkung übrigens auch. Lebensmittel mit hohem Spermidingehalt sind Weizenkeime, Cheddar (12 Monate gereift), Nüsse, Mango und Äpfel. In gekochtem Zustand: Kräuterseitling, Natto, Pilze, Erbsen, Brokkoli, Karfiol, Knoblauch, Spinat und Sellerie.
Wenig Speck und viel Schlaf
Die Politik weist viel zu wenig auf diese Form der Eigenverantwortung hin. Leider. Es braucht einen flächendeckenden Plan, der klarmacht: Jeder muss mitmachen. Jeder muss vorsorgen. Morgens Eier mit Speck, zu Mittag deftige Hausmannskost, am Abend eine Pizza Cardinale und vor dem Schlafengehen noch schnell ein paar Chips, so bitten wir das Virus herein. Ich selbst esse gern einmal Bauernspeck oder zartes Lamm. Bier oder ein Glas Wein gehören dann auch dazu. Aber nicht täglich. Dann wird es zum Problem.
Zur Eigenverantwortung gehört es auch, auf den Schlaf zu achten. Im Schlaf setzen wir Melatonin frei. Das bedeutet, wenn wir schon schlecht schlafen, weg vom Fernseher und anderen Bildschirmen. Deren blaues Licht lässt unsere Zellen glauben, es sei schon Tag. Das verstellt die innere Uhr und macht uns unrund.
Trio infernale für die Seele
Nächster Pfeiler in Sachen Eigenverantwortung ist die Psychohygiene. Der globale Schock nach dem Ausbruch von Corona war mit der Freisetzung gewaltiger Mengen von drei gefährlichen Giftstoffen verknüpft: Angst, Unsicherheit und Verzweiflung. Das Trio infernale für die Seele. Die nicht enden wollende multimediale Panikmache wirkt sich ohne Frage auf das Immunsystem aller Menschen aus. Permanent schlechte Nachrichten lösen Schlaf- und Essstörungen aus. Eines greift dann in das andere. Das fragile Gefüge des Geists bröckelt. Auch hier braucht es Balance. Psychische Ausgeglichenheit.
Der Highway zum Herzen
Die Eigenverantwortung zu fördern, bedeutet für die Politik also definitiv mehr, als in Dauerbeschallung zum Impfen aufzurufen und Gesundenuntersuchungen anzubieten, bei denen es darum geht, ob Blutdruck oder Blutfettwerte stimmen, damit wir weiter Cheeseburger und Spaghetti Carbonara in uns hineinstopfen und mit Bier runterspülen können. Es geht um die einfache, aber wichtige Frage:
Was tut die Politik, um Menschen zu stärken? Was tut sie, um ihre Eigenmacht und ihre Gesundheitskompetenz, ihre Lebenskompetenz und ihr Immunsystem zu stärken? Wie bringen wir sie dazu, nicht nur darauf zu warten, bis die Pharmaindustrie das nächste Pulver herausbringt, das den Fettgehalt senkt, den Bauch um einen Hauch abflacht und das Virus killt? Wir brauchen angstreduzierende Trainings, um die Folgeerscheinungen nicht der Pandemie, sondern der daraus entstandenen Maßnahmen zu mildern. Meditationsübungen. Wir müssen den Weg ins Ich asphaltieren. Den Highway zum Herzen.
„Um uns zu erinnern, gehen wir langsamer“
In der Krise wächst der Mensch. Aus sich heraus. Über sich hinaus. Jede Krise birgt Chancen. Jede Katastrophe gibt uns die Möglichkeit für einen Neubeginn. Vielleicht hat das Coronavirus ja wirklich das Ende des hemmungslosen Hedonismus eingeläutet. Womöglich sind wir wirklich so weit, das Tempo zu drosseln und innezuhalten. Uns auf die wahren Werte zu besinnen.
Der tschechisch-französische Schriftsteller Milan Kundera hat einen schönen Satz gesagt: „Um zu vergessen, werden wir schneller. Um uns zu erinnern, werden wir langsamer.“ Wir müssen uns erinnern, was wichtig ist im Leben. Zuneigung, Liebe, der Partner oder die Partnerin, die Familie, Zusammenhalt. Echte Gefühle, nicht gespielte Glückseligkeit und geheucheltes Klimabewusstsein, während vier Autos in der Garage stehen, man gönnt sich ja sonst auch alles. Schönheitskult stärkt das Immunsystem nicht, im Gegenteil. Wir müssen darauf schauen, dass sich das kollektive Bewusstsein ändert.
Wir sind Gesamtkunstwerke
Wir müssen Gesundheit als etwas sehen lernen, das nicht automatisch da ist, vom lieben Gott geschenkt. Eine starke Pumpe, eine resche Konstitution, stramme Wadeln. Gesundheit verlangt nach einem holistischen, ganzheitlichen Ansatz. Wir können nicht Einzelheiten herausnehmen und sagen: Heute widmen wir uns der linken Niere, morgen kommt die Galle dran, und am Wochenende schützen wir sicherheitshalber die Leber. Der Mensch als Gesamtkunstwerk braucht eine 24-Stunden-Betreuung.
Das sollten schon die Kinder lernen, doch genau das Gegenteil ist der Fall und auch das ist ein Versäumnis der Politik. Studien zeigen: Kinder bewegen sich zu wenig, besonders Kinder aus einkommensschwachen Familien und Kinder in Städten. Wir brauchen mehr Sport im Unterricht. Es ließen sich leicht Akzente setzen und Aktionen ins Leben rufen, um Schülern gesundes Essen schmackhaft zu machen. Chill, Bro.
Eine große Chance
Wer auf sich achtet, achtet auch auf andere. Rücksicht nehmen, einmal mehr lächeln, anstatt grantig auf den Boden zu starren. Es ist so einfach. Mindfulness. Achtsamkeit. Leben im Hier und Jetzt. Wir müssen wieder lernen, die Natur zu sehen. Unsere eigene Natur und die Natur draußen, von der wir ein Teil sind. Das Virus gibt uns die Chance dazu. Ergreifen wir sie.
Hinterlasse einen Kommentar